Soziale Netzwerke im Internet üben auf manchen Menschen einen merkwürdigen Reiz aus. Sie schaffen für ihn eine offenbar unwiderstehliche Versuchung zur Grenzüber-schreitung. Ihre Nutzer können sich nicht nur in (Hass-)Kommentaren ausleben, die sie unter dem Schutz der Anonymität verfassen. Andere Plattformen schaffen für Personen-gruppen die Möglichkeit, sich miteinander zu vernetzen und in ständigem Austausch zu stehen (sog. Chat-Gruppen). Wer sie für Beleidigungen, Gewaltverherrlichung und rassis-tische Äußerungen missbraucht, tut dies regelmäßig im Vertrauen auf eine „End-zu-End“-Verschlüsselung, die die Chat-Inhalte für Dritte unzugänglich macht. Damit ist die Erwar-tung verbunden, für die Inhalte der Äußerungen in Chat-Gruppen nicht zur Verantwortung gezogen werden zu können.
Ob dies zutreffend ist, hat zunächst die Niedersächsische Arbeitsgerichtsbarkeit, dann das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einem Kündigungsschutzverfahren um eine außerordentliche Kündigung beschäftigt, das das BAG mit seinem Urteil vom 24.08.2023 – 2 AZR 17/23 abgeschlossen hat. Zum Sachverhalt: Der Kläger war seit 2014 mit 5 anderen Arbeitnehmern der Beklagten Mitglied einer Chat-Gruppe des Messenger-Dienstes WhatsApp. Die Gruppenmitglieder waren langjährig befreundet, 2 miteinander verwandt. Ein siebtes Mitglied, ehemaliger Arbeitskollege, gehörte der Gruppe nur vorübergehend an. Neben rein privaten Themen äußerte sich der Kläger in einigen seiner Chat-Beiträge – wie auch andere Gruppenmitglieder – beleidigend, fremdenfeindlich, sexistisch und menschenverachtend über Vorgesetzte und Kollegen. Teilweise rief er sogar zu Gewalttaten gegen sie auf. Der Chat-Verlauf gelangte über andere Mitarbeiter der Beklagten an deren Personalleiter. Die Beklagte hat das Arbeitsverhältnis des Klägers wegen seiner Äußerungen in dieser Chat-Gruppe außerordentlich gekündigt. Der Kläger hat seine Kündigungsschutzklage damit begründet, dass der Chat-Verlauf weder von der Beklagten verwendet noch durch Gerichte in dem Rechtsstreit verwertet werden dürfe, weil es sich um einen rein privaten Austausch gehandelt habe. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben sich der Auffassung des Klägers angeschlossen. Sie sind davon ausgegangen, dass seine Äußerungen in der Chat-Gruppe vertraulichen Charakter gehabt hätten und in der Erwartung auf Vertraulichkeit abgegeben worden seien. Sie könnten deshalb nicht zur Begründung einer Kündigung herangezogen werden. Die Revision der Beklagten zum BAG hatte Erfolg. Es hat das Urteil des Landesarbeitsgerichts aufgehoben.
Das BAG hat in seinen Entscheidungsgründen zunächst festgestellt, dass der Verwendung der Chat-Protokolle in dem Prozess kein Sachvortragsverwertungsverbot entgegenstand. Die Auswertung dieses Sachvortrags verletze den Kläger nicht in seinen Grundrechten. Die Beklagte habe den Chat-Verlauf nicht durch rechtswidrige Maßnahmen wie eine von ihr veranlasste anlasslose Ausspähung erlangt, sondern über eine Kette von Mitarbeitern. Die Äußerungen des Klägers hätten auf Herabwürdigung, Verächtlichmachung und Beleidigung anderer Personen gezielt, beträfen damit nicht seinen eigenen unantastbaren Intimbereich und hätten keinen ihn betreffenden höchstpersönlichen Charakter. Sie beträfen allenfalls seinen Privatbereich, die in ihnen enthaltenen Gewaltsaufrufe auch Belange der Gemeinschaft. In dieser Situation überwiege der Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Denn nur unter Verwendung des Gruppen-Chats könne die Beklagte ihre Rechtsposition wirksam verteidigen. Insoweit entsprach die Begründung des BAG der Bewertung der Vorinstanzen.
Anders als die Vorinstanzen hat das BAG das Vorliegen eines wichtigen Grundes für eine außerordentliche Kündigung bewertet. Dass die Äußerungen des Klägers inhaltlich ein ausreichendes Gewicht hatten, um eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen, stand fest. Es stellte sich lediglich die Frage, ob der außerordentlichen Kündigung die Vertraulichkeit der Kommunikation innerhalb der Chat-Gruppe entgegenstehe. Das BAG hat geprüft, ob der Kläger eine berechtigte Vertraulichkeitserwartung hätte haben können. Dies hat es im Ergebnis verneint: Zwar gebe es bei ehrverletzenden Äußerungen über nicht anwesende Dritte in besonders engen Lebensbeziehungen eine beleidigungsfreie Sphäre, in der Menschen das Recht hätten, sich rückhaltlos zu äußern. Voraussetzung dafür sei aber, dass zwischen den an der Kommunikation beteiligten Personen ein so enges Verhältnis bestehe, dass es dem Verhältnis zu nahestehenden Familienangehörigen oder Ehegatten gleichkomme. Diese Vertrauensgrundlage müsse die Sicherheit begründen, dass der Kommunikationspartner das Gehörte (oder Gelesene) für sich behalte. Ob eine solche berechtigte Vertraulichkeitserwartung auch unter Arbeitskollegen bestehe, hänge von der Kommunikationssituation ab. Dafür komme es zum einen auf die Zahl der Teilnehmer an, zum anderen auf die Gesprächsinhalte. Je gravierender verbale Angriffe seien, desto höher seien die Anforderungen an die Berechtigung der Vertrauenserwartung, d. h. ihre tatsächliche Grundlage. Einseitige Vorstellungen desjenigen, dessen Äußerungen den Betriebsfrieden stören könnten, reichten dafür nicht aus. Schon die Zahl von 7 Chat-Teilnehmern spreche gegen eine berechtigte Vertraulichkeitserwartung. Eine „End-zu-End“-Verschlüsselung rechtfertige ohnehin keine berechtigte Vertrauenserwartung, weil sie sich nicht auf das Verhalten der übrigen Chat-Teilnehmer beziehe. Besonderes Gewicht hat das Urteil aber auf die Heftigkeit der verbalen Ausfälle gelegt, die eine berechtigte Vertraulichkeitserwartung nahezu ausschlossen. Dazu sollte sich der Kläger allerdings noch einmal vor dem Landesarbeitsgericht äußern dürfen.
Zusammengefasst: Das Grenzüberschreitungen in einer Chat-Gruppe stattfinden, schützt Täter nicht vor arbeitsrechtlichen Sanktionen. Anders kann dies nur sein, wenn eine Kommunikation zwischen Personen stattfindet, zwischen denen enge Verbundenheit und eine starke Vertrauensbasis existiert. Aber wer bedient sich in einem solchen Falle eines sozialen Netzwerks?
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